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Aus der Praxis

Polka und Adele

Verbandsjugendorchester Hochschwarzwald/Baden-Württemberg

 

06.01.21

Eine 15-jährige Schülerin und ihren 78-jährigen Großvater trennen oft Welten. In ihren Erwartungen, Lebenseinstellungen – und in der Musik, die sie lieben. In dem Dorf, in dem sie leben, treffen sie mindestens einmal die Woche aufeinander. Und ihre konträren Vorstellungen von guter Musik ebenfalls.

Text: Kathrin Köller

 

Im lokalen Musikverein will Tiara, die Trompeterin, Adele spielen. Klaus-Jürgen an der Tuba mag lieber Polka. Am Ende spielen sie beides, weil die gemeinsame Liebe zur Musik sie dazu bringt, aufeinander zuzugehen.

 

Und das macht Musikvereine so besonders, findet Jakob Scherzinger, Vorstandsmitglied der Deutschen Bläserjugend, die 350.000 Kinder und Jugendliche vertritt, die in lokalen Musikvereinen organisiert sind, und landauf, landab Adele und Polka zu Gehör bringen. „Musikvereine sind vor allem ein Phänomen von Orten, die weniger als 2.000 Einwohner*innen haben“, erklärt Jakob Scherzinger. Dafür sind die Orchester dann oft sehr mitgliedsstark. cEs gibt Musikvereine in Orten, die nicht mehr als 300 Einwohner*innen haben. Zehn Prozent von ihnen engagieren sich im Musikverein.“

 

„Ohne Ehrenamt findet der Verein nicht statt.
Viele Kinder und Jugendliche werden in die ehrenamtliche
Tätigkeit eingebunden und können dadurch
am Gemeinwesen partizipieren.“
Jakob Scherzinger

Natürlich ist das große Interesse am Musikverein in ländlichen Regionen zunächst einmal aus einer Not heraus geboren. „Oft ist der Verein die einzige Möglichkeit, um musikalisch irgendwie tätig zu werden“, weiß Jakob Scherzinger, der selbst als Dirigent in verschiedenen Musikvereinen, u. a. im Hochschwarzwald, unterwegs ist. Dort wachsen die Kinder und Jugendlichen in einem infrastrukturell schlecht ausgebauten Raum auf. Sie haben weite Schulwege und brauchen daher einen gut erreichbaren „Dritten Ort“ neben Familie und Schule, an dem sie sich wohlfühlen und ihre Peer Group treffen können. Genau das bieten die Musikvereine, die oftmals in den verlassenen Grundschulen der Dörfer logieren. Hier kann man zu Fuß oder mit dem Rad hinkommen, Freund*innen treffen und gemeinsam Musik machen.

 

„Musizieren ist eine kooperative Tätigkeit.“

Jakob Scherzinger will gar nicht verheimlichen, dass es durchaus immer wieder zu Konflikten zwischen Jung und Alt und Tradition und Moderne kommt. Aber noch der traditionellste Musikverein weiß, dass er jugendliche Beteiligung braucht. Tiara hat also gute Karten. „Das Repertoire, das im Musikverein gespielt wird, ist ein Aushandlungsprozess, der über Jahre stattfindet und an dem verschiedene Akteur*innen beteiligt sind“, erklärt der Dirigent. „Da kann man als Jugendliche seine Meinung äußern und wird auch gehört.“ Meistens finden Diskussionen darüber, was gespielt wird, vor oder nach der Probe statt. Daneben haben viele Vereine die Beteiligung aber auch schon institutionalisiert und Jugendvertreter*innen für die Programmarbeit mit eingeplant. „Diese Aushandlungsprozesse tragen zur Demokratiebildung von Jugendlichen bei“, erklärt Jakob Scherzinger. „Man entwickelt in dem Orchester ein Repertoire, das gemeinsam von allen getragen wird und fühlt sich dann auch dieser Gruppe zugehörig. Das gemeinsame Musizieren hat durchaus eine identitätsstiftende Wirkung. Denn man spielt mit- und nicht gegeneinander. Jeder Musikverein, jedes Orchester spielt besser, wenn die Leute miteinander kooperieren und nicht konkurrieren.“

 

„Partizipation entsteht durch ehrenamtliches Wirken.“

Neben der Mitbestimmung des Repertoires bieten die Musikvereine auch viele Möglichkeiten, sich ehrenamtlich zu engagieren. „Musikvereine sind ja letzten Endes auf organisatorischer Ebene ausschließlich ehrenamtlich getragen. Ohne Ehrenamt findet der Verein nicht statt. Viele Kinder und Jugendliche werden in die ehrenamtliche Tätigkeit eingebunden und können dadurch am Gemeinwesen partizipieren“. Jugendliche gestalten Probenräume, übernehmen Instrumenten-Vorstellungen und engagieren sich in der Organisation von Ausflügen und Proben-Wochenenden. Dafür verwalten sie dann selbst ein Budget, sind die wichtigen Ansprechpartner*innen, sind technisch auf der Höhe der Zeit und haben die Schlüssel für den Probenraum. Ehrenämter im Musikverein bieten Jugendlichen viele Möglichkeiten, sich als selbstwirksam zu erfahren und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestärkt zu werden, ist Jakob Scherzinger überzeugt.

„Diese Aushandlungsprozesse tragen
zur Demokratiebildung von Jugendlichen bei.“
Jakob Scherzinger

„Wo machen wir ein Konzert und wie soll das aussehen?“

Um Jugendlichen aus dem ländlichen Raum aber auch die Gelegenheit zu geben, mal ausschließlich mit anderen jungen Menschen ihre ganz eigenen Vorstellungen zu realisieren, hat der Dirigent 2019 das Verbandsjugendorchester Hochschwarzwald gegründet. In dem Jugendorchester spielen knapp 40 Bläser*innen zwischen 14 und 26 Jahren aus den Blasmusikvereinen der Region, u. a. aus Neustadt, Lenzkirch, Bonndorf und Löffingen. Selbstorganisation und Ehrenamt werden auch hier großgeschrieben. Die Jugendlichen regeln die musikalischen und organisatorischen Belange demokratisch. „Es gibt natürlich immer jemanden, der oder die moderiert, aber es ist wichtig, alle miteinzubeziehen, denn nur dann können auch alle die Entscheidungen mittragen.“ Wie sehr sich Jugendliche engagieren, wenn sie ihre eigenen Vorstellungen einbringen können, zeigte sich beim Debütkonzert des Orchesters. Als die Jugendlichen darüber debattierten, wie sie das Konzert „klang.farben“ moderieren wollten, kam die Idee auf, die Musik filmisch vorzustellen und zu den einzelnen Stücken jeweils kleine Filme zu drehen. Ein großer Aufwand, aber „es hat sich dann direkt eine Gruppe gebildet, die ein Konzept zu den einzelnen Stücken entwickelt hat. Alle fanden die Idee gut und dann wurde besprochen, wer die Filme dreht, wer mitspielt, etc.“ Der Dirigent ist begeistert über das Ausmaß an Teamgeist, demokratischer Kommunikation und Professionalität, welche die Jugendlichen dabei an den Tag legen. Und natürlich ihre ganz eigene Kreativität. „Da merkt man dann, was Kinder und Jugendliche interessiert und wie sie Konzerte gestalten wollen, wenn das selbst von ihnen kommt.“

 

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Land – alles oder nichts!? kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 18-2020. Berlin. S. 23 – 25.